Oh, Mann… Vor einer halben Stunde konnte ich wenigstens noch uns Tal blicken. Wie ein grüner Graben breitete es sich unter mir aus, beschirmt von bizarr-zackigen Gipfeln. Jetzt ist nichts als graue Suppe um mich. Dafür all die Anstrengung? Denn es sieht nicht eben aus, als wollte diese Nebel-Wolken-Mischung weiter oben wieder aufbrechen. Der Weg aus Pflastersteinen, der den steilen Hang in unendlich vielen Kehren hinauf strebt, ist dabei zwar gut zu gehen, aber er verliert sich immer einige Meter vor mir im trüben Nichts. Komplette Stille.
Ich hätte gewannt sein müssen. Schließlich liegt diese Insel an der Passat-Front. Die feuchten Luftmassen vom Atlantik, in bestimmter Jahreszeit sind es unerbittliche Stürme, treffen mit Santo Antão auf die erste Insel der Kapverden. Und wenn es heißt, die neun bewohnten Inseln seien sehr verschieden – manche wüstenartig flach, andere zerklüftet und auch trocken – und Santo Antão sei die grünste von ihnen, dann ist erst recht klar, dass das Wetter hier launisch sein kann. Dabei ist Santo Antão selbst wie ein kleiner Kontinent. Obwohl gerade einmal 779 Quadratkilometer und damit kleiner als der Stadtstaat Berlin, gibt es eine beachtliche landschaftliche Vielfalt. Im Süden, hinter der Inselhauptstadt Porto Novo ist es relativ flach trocken. Vom Südwesten bis in den Norden ist es ebenfalls trocken, die Landschaft aber bergiger, teilweise zerklüftet wie im Südwesten der USA. Bis zu 2.000 Meter hoch wachsen die Berge, teilweise Vulkane in den Himmel, oben wird Landwirtschaft betrieben. Und dann eben die grünen Täler ganz im Norden.
Auch die Bäume weinen
An deren Gipfeln hängen sehr oft Wolken. Das macht Sinn, sonst wäre die Landschaft hier weniger grün. Mitten in diesen Wolken befinde ich mich jetzt gerade. Es nieselt, aber nicht vom Himmel, sondern nur aus Bäumen und Sträuchern, an denen der unablässig über die Berggrate wabernde Nebel Unmengen an Feuchtigkeit hinterlässt. Vielleicht weinen die Bäume ja mit mir über die trübe Wetterstimmung, und in Gedanken haben wir gemeinsam die wunderschönen Bilder, wie sich die bizarre Berglandschaft im Sonnenschein ausbreitet, in der nicht so fernen Ferne leuchtet dazu der blaue Ozean. Auch wenn es beim Aufstieg kleine Lücken am Himmel mit Blau gab, kann ich mir das gerade kaum vorstellen, ich hab’s hier ja auch noch nicht gesehen, die Bäume schon…
Zurück zur Realität: Wegen der schlechten Sicht ist das Ende des Aufstieges nicht erkennbar. Hinweisschilder dieser Art gibt es natürlich nicht, diese Wege sind auch nicht für wandernde Touristen eingerichtet, sie sind vielmehr immer noch Transportwege für die Einheimischen, deren Häuser abseits der Straßen liegen. Angesichts der Anstrengungen des nun schon mehr als zwei Stunden dauernden Aufstiegs macht sich ein bisschen deprimierende Stimmung in mir breit, aber hey: es wird schon ein Ende der Strapazen geben. Und abbrechen gibt’s nicht.
Auf einmal jedoch sieht es so aus, als steige der Felshang über mir nicht weiter an und zwei Kehren weiter befinde ich mich ich auf einer Art Sattel. Rechts und links zieht sich der Felsgrat noch etwas höher, aber nach kurzer Zeit gibt es eine kleine Auflockerung und ich sehe in den Krater Cova de Paul. In den Krater hinein zu gehen, kostet dann gerade einmal 15 bis 20 Minuten und hier sieht auf einmal alles recht unspektakulär aus. Der Krater ist eine fast ebene Fläche von weniger als einem Kilometer im Quadrat, auf der sich Felder befinden und einzelne Kühe angebunden herumstehen. Aus kleinen Ställen am Rand der Fläche tönen andere Tiergeräusche. Immer wieder ziehen dichte Nebelfronten von einem Ende zum anderen, dazwischen klart es kurz auf. Der Kraterboden liegt wohl auf etwa 1.100 Metern, die höchsten Zacken am Rand erreichen 1.500 Meter.
Das sieht jedenfalls anders aus, als ich es vom Tal aufsteigend erwartete. Denn untern wähnt man sich in einer sehr spektakulären Vulkanlandschaft. Meine Vorstellung: Die im Wolkendunst liegenden Spitzen müssten gerade erstarrte bizarre Felskrater sein, einer Urlandschaft ähnlich.
Nun denn, wieder hinab ins Tal von Paul. Und das bewahrt sich sein Mysteriöses auch beim Abstieg: Die Wolken geben den Blick erst weiter unten frei. Die höchsten Gipfel bleiben ohnehin die gesamte Zeit über verhüllt. Als müssten sie als Beschützer eines lieblichen Tals ganz vornehm im Hintergrund bleiben.
Trotzdem erkennt man ihre zackigen Formen, wegen derer man eben auch die Krater dahinter wilder vermutet. Beim Abstieg klart es ziemlich genau an jener Stelle auf, wo auch Wald und wildes Gestrüpp von den höchstgelegenen landwirtschaftlichen Flächen abgelöst werden. Bald erscheinen die ersten Häuser wieder, umgeben von Terrassenfeldwirtschaft an den steilen Hängen. Wobei die Terrassen nicht in den Hang hineingehauen wurden, vielmehr haben die menschen hohe Mauern aus Felssteinen aufgeschüttet und den Raum hangwärts mit fruchtbarer Erde aus dem Talgrund aufgeschüttet. Anstatt den Hängen etwas abzuringen, haben sie sie gewissermaßen aufgemotzt – mühevoll.
Etwas ganz Spezielles ist auch die Wasserversorgung auf Santo Antão. Zwar gibt es ausreichend Niederschläge, aber an das Wasser kommt man nicht so ohne Weiteres heran. Es versickert nämlich erst einmal und durchfließt viele durchlässige Gesteinsschichten, teilweise bis auf Meeresniveau. Es kann somit nur an ganz bestimmten Stellen gefördert werden. Um die Terrassenfelder zu wässern, ist daher ein ausgeklügeltes System von Kanälen angelegt worden.
Diese Levadas werden teilweise von den wenigen natürlichen Wasserläufen abgezweigt. Es sieht ein wenig aus wie die Waalwege in den Alpen. Eins der ersten Häuser am Weg bergab gehört Juze Anton. Der ältere Herr sitzt auf der Terrasse seines Hauses, das nach vorn bescheiden wirkt, von der Talseite jedoch weithin sichtbar ist und als eines der größten erscheint. Wie er da so sitzt in weißem Hemd und Anzughose – es ist Sonntagnachmittag – sieht er sehr würdevoll aus und scheint sich über die Aussicht, von einem dahergelaufenen Wanderer abgelichtet zu werden, ehrlich zu freuen. Seine Frau Alice nimmt ihr Kopftuch ab und Posieren können beide gut.
Überhaupt scheint das Posieren den Kapverdianern in die Wiege gelegt zu sein. Kein Wunder, denn sehr viele von ihnen sind objektiv betrachtet einfach sehr schöne Menschen. Gerade die Leute in den Dörfern auf Santo Antão haben sich zudem eine große Natürlichkeit bewahrt. Wie lange das angesichts des boomenden Tourismus noch anhält, bleibt abzuwarten.
Auf dem Weg weiter ins Tal hinab bittet mich eine Frau vehement in den Innenhof ihres Hauses, um mir eine Tasse Kaffe anzubieten. Nach zwei Schluck möchte sie dann unumwunden 500 Escudos dafür haben, das sind 5 Euro.
Ökotourismus: Einer der ersten auf der Insel
Zurück im Tal, auf der Strasse, an der sich fast alle Siedlungen aufreihen. Meine Wanderung hat mich müde, mit einer schummrig-gemütlichen Note zwischen Kopf und Beinen gemacht. 700 steile Höhenmeter mache ich nicht gerade täglich. Leider hat die Bar O Curral heute bereits um 16 Uhr ihre Pforte geschlossen. Gestern war ich bereits hier und habe mich ein bisschen durch die lokalen Spezialitäten aus biologischem Anbau probiert.
Alfred Mandl war hier im Jahr 2003 Pionier mit einer ersten Ökotourismus-Einrichtung auf Santo Antão. Das Café-Restaurant bietet Leckereien, die fast alle aus der eigenen kleinen Landwirtschaft nebenan stammen. Der Grogue, auf den ganzen Kapverden reichlich fließender und wohlschmeckender Rum aus Zuckerrohr, wird hier in vielen Varianten angeboten, auch als Likör. Auch Öle sowie den Queijo, eine lokale Ziegenkäse-Spezialität, gilt es zu probieren. Und natürlich den Wein von der Insel Fogo. Schmeckt alles hervorragend, muss ich sagen. Und selbst dem sehr intensiv schmeckenden Zuckerrohrsaft kann ich etwas abgewinnen, den muss ich allerdings nicht in rauen Mengen haben.
Dass hier, gerade im Vale do Paul so einiges aus Zuckerrohr gemacht wird, verwundert nicht. Die langen Stauden mit ihren weichen Federn an der Spitze, die jeder gelegentlich auftauchende Sonnenstrahl zum Gleißen bringt, sind allgegenwärtig. Wohl noch häufiger als Bananenstauden und Papayabäume.
Überhaupt, die Felderwirtschaft. Ist die Naturlandschaft mit ihren Krokodielsrückenartigen Bergen und dem engen Tal von Paul filigran, passen sich die Anbauflächen der Bauern an: Winzige Parzellen, jeder Quadratmeter wird von den Talbewohnern genutzt zum großen Teil zur Selbstversorgung. Aus igrendeinem seltsamen Grund dürfen Lebensmittel nicht von Santo Antão auf die anderen Inseln exportiert werden. Schuld ist ein Keim, vor dem man sich dort fürchtet.
Schlafen im Paradies
Heute also leider keine Bio-Spezialitäten in der bar O Curral, Sonntags wird früher Feierabend gemacht. Dafür strande ich auf dem langsamen Heimweg talabwärts in der Bar von Jorge. Die Party ist bereits aus drei Kilometern Entfernung zu hören, eine Mischung aus traditioneller kapverdischer Musik – dem Batuku – und Hiphop im globalen Stil mit leicht lokalem Einschlag. Ursprung des talfüllenden Sounds ist die Bar am tiefsten Punkt des Tals, bevor ich noch einmal zum finalen Anstieg zu meinem Traum-Domizil ansetzen muss. Es ist gerade noch schöner Spätnachmittag, der Himmel aufgelockerter als den restlichen Tag, also kehre ich ein. Und es ist wohl die erste Bar, in der die Musik leiser gestellt wird, man als erster Gast einkehrt. Also sitze ich da alleine bei nun leiserer Musik. Aber das macht nichts, denn ich trinke ja einen Grogue. Eine wohlwollende Müdigkeit krabbelt langsam meinen Körper von unten hinauf. Der Grogue tut sein Übriges und der mit Maracujasaft versetzte Grogue, den mir Jorge noch so nebenbei zum Probieren gibt und der mich an Likörgetränke aus der Jugend denken lässt, dabei aber bedeutend weniger chemisch schmeckt, tut es auch.
Schließlich mache ich mich auf den letzten Anstieg zu Aldeia Manga, Heimat für sechs Nächte. Das Resort liegt fern der Durchgangsstraße erhöht auf der ruhigeren Talseite. Der Weg führt zwischen Feldern entlang, gerade ist Höhepunkt der “Blauen Stunde”. Letzte Helligkeit fällt über die Berge uns Tal, schwere Wolken schaffen eine mystische Stimmung. Vom Weg sehe ich gegenüberliegende Berghänge, an denen sich einige funzlige Straßenlaternen aufreihen. Dass dort oben unter Bäumen überhaupt noch Häuser stehen, hätte ich nicht gedacht, dass sie diesesn Service der nächtlichen Beleuchtung haben, erst recht nicht. Es sieht im Halbdunkel sehr schön aus.
Aldeia Manga – ein kleines Paradies: Sechs Bungalows liegen unter Bananen- und Papayabäumen in absoluter Ruhe. Traumhaft schön, dabei angenehm einfach ohne Luxus und wahrhaft ökologisch geführt. Plastik-Wasserflaschen sind tabu. Das Leitungswasser wird mit Hilfe von UV-Filtern gereinigt und schmeckt super. Das Essen kommt von den Kleinbauern der Umgebung.
Man passt hier die Tagesrhythmen der Natur an. Das Abendessen wird pünktlich um 19 Uhr zum Einbruch der Dunkelheit serviert, ab kurz nach 20 Uhr haben die Bediensteten frei, man kann dann noch Getränke aus dem Kühlschrank nehmen und bis in die Nacht hinein auf der Terrasse abhängen. An meinen Abenden sind die abendlichen Pläuschchen mit anderen Reisenden meist begleitet von stetem Wind, der die riesigen Blätter der Bananenstauden ordentlich herumwirbelt. Jorge, den Mann von der Bar, sehe ich hier mehrfach wieder. Er ist so etwas wie ein Allroundworker. Er mäht Rasen, baut an Möbelstücken herum, und ist auch an anderen Orten im Tal zur Stelle, wo helfende Hände oder Kommunikation gefragt sind.
Auf und ab überm Atlantik
Der Wind ist die ganze Nacht zu hören, aber das macht nichts. Mich beruhigt es. Ich muss dazu sagen, ich habe ein starkes Faible für stille Orte in einsamen Tälern, am besten unter steilen Gipfeln. Ich fühle mich da immer geborgen und eins mit der Welt. Schlaf also allemal gut.
Am nächsten Tag heißt es dann wieder wandern. Dieses Mal aber mit Meerblick. Zunächst geht es durch die Ribeira Grande, vorbei an steilen Terrassenhängen.
Dann runter zum Meer. Hier unten ist das Wetter gleich besser, auch wenn ein starker Wind keine richtige Wärme aufkommen lässt. Faszinierend finde ich bei dem Weg von Cruzinha nach Ponta do Sol, dass auf jedem Flecken Land, der nicht zu steil ist, Menschen siedelten.
Auch dort, wo tiefe Canyons sich nach wenigen Metern in eine Meeresbucht übergehen. Ruinen von einstigen Dörfern zeugen davon. Landwirtschaft ist kaum möglich, vielleicht ein bisschen Fischfang. Unterwegs begegnet man auch einer Stelle, an der viele Riesenkanister lagern, ein Hinweis, dass hier tief im Fels Wasser aufgefangen wird, dass die Gesteinsschichten durchfließt und hier nahe an der Oberfläche zutage tritt.
Den nächsten größeren Ort Ponte do Sol erreicht man auf schweißtreibenden Wegen. Zwischen den Dörfern Forminguinhas und Corvo und ganz besonders zwischen Corvo und Fontainhas geht es hunderte Höhenmeter bergauf und wieder bergab.
Wenn Fontainhas ins Bild kommt, meint man, die Häuser des Ortes habe ein Riese einfach nach Laune in eine Urlandschaft hingeworfen, so wild verteilen sie sich über die Hügel mit steilen Felsflanken, meist liegen die Häuser oben auf einem Hügelgrat.
Erschöpft, aber wieder ziemlich glücklich erreiche ich Ponte do Sol, das auf den ersten Blick einigermaßen schmucklos auf einer Landzunge liegt. An deren Spitze erstreckt sich gar eine Landebahn. Doch die war bisher einfach zu kurz und die Enden gehen unmittelbar in den Atlantik über, so landet und startet hier auf absehbare Zeit kein Flugzeug. Ein Glück für diese stille Insel.