Geschichte und Weinbau verbinden die Südsteiermark mit der slowenischen Untersteiermark (Slovenska Štajerska). Das Weingut Gross im österreichischen Ratsch bewirtschaftet neben heimischen Lagen auch Flächen im nahen Slowenien. Bei meinen Besuchen erlebe ich sanfte Hügel, frische Weine und die vielfältige Arbeit bei der Weinproduktion. Continue Reading…
Wein ist in aller Genießer Munde. Die Ansprüche wachsen. Für Produzenten heißt das: Alles tun für gute Erträge und gleichbleibend hohe Qualität. Aber Wein ist eben auch Naturprodukt. Die Natur lässt die Reben gedeihen und ist mitunter launig. Winzer Hannes Söll ist der Ansicht: Zu viel Bearbeitung schadet eher, die Reben sollen von selbst wachsen. Auf seinem Weingut in der Südsteiermark verfolgt er einen entsprechenden Ansatz mit Erfolg.
Jetzt gräbt er schon wieder etwas aus: Eine ziemlich dicke Knolle! Nase drangehalten: Es riecht intensiv nach frischem Meerrettich. Die Knolle wächst hier einfach so am oberen Ende der Weinlage.
Aber nicht nur sie – auch kleine Nussbäume kann man alle paar Meter ausgraben, zahlreiche Kräuter und Heilpflanzen finden sich. Und das Gras wächst sowieso recht hoch. Kein Wunder: es wird auch mit der Sense per Hand gemäht. Nur: Wie verträgt sich all das mit den Reben? Brauchen die nicht die ganze Kraft des Bodens für ihr eigenes Wachsen? Hannes Söll sagt: “Nein”. Die größte Konkurrenz für eine Rebe sei die ihr nächststehende Rebe. Wachsen zu wenige andere Pflanzen in der Umgebung der Reben, dann herrscht Armut im Boden und die Reben graben sich gegenseitig Saft und Kraft des Untergrunds ab. Monokultur sei von der Natur nicht vorgesehen. Eine große Vielfalt an Pflanzen auf kleinem Raum führe dagegen zu Nährstoffreichtum.
Söll stellt seine Philosophie und Arbeitsweise bei einem Rundgang durch seinen Weingarten in Steinbach vor und und als Besucher bekommt man dabei auch schon einmal den Spaten in die Hand gedrückt. Ein bisschen graben zur Demonstration. Was hier so alles wächst! Aber auch, wie locker und lebendig sich die Erde anfühlt, erstaunt. Letzteres rührt von der Vielfalt an wildem Wuchs und der extensiven Behandelung des Bodens. Den lässt Söll nämlich so weit es geht in Ruhe.
Der Wildwuchs gefällt übrigens auch Rehen, die nicht unbedingt willkommen sind, da sie sich gerne an den Reben bedienen. Söll versucht, sie mit menschlichem Haar abzuhalten. Das klappt nur nicht immer optimal. Doch auch andere Tierarten lieben einen naturnahen Weingarten – Insekten und andere Kleintiere zum Beispiel. Und wenn es denen gut geht, haben alle etwas davon, schließlich sind viele Insekten für die Bestäubung von Pflanzen zuständig und ihr massiver Schwund in unsere Kulturlandschaft während der letzten Jahrzehnte bedroht unsere Nahrungsmittelversorgung.
40.000 Kinder, viele Punks darunter
Seine Reben betrachtet Hannes Söll als seine Kinder – 40.000 mögen es wohl sein. Wie man es mit Kindern tut, so ist Söll auch für seine Kinder da und schaut, was sie brauchen, um gut zu gedeihen. Zu viel Hilfe und Betreuung solle es aber gerade nicht sein. Vielmehr sollten die Reben von Beginn an lernen, alleine mit den Herausforderungen ihrer natürlichen Umgebung zurechtzukommen: Niedrige Temperaturen zum Beispiel, Frost, Nässe, andere Pflanzen, die sich an den Nährstoffen im Boden gütlich tun. Das sollten die Reben aber hinbekommen, so Söll. Schließlich sei in jeder Zelle das Programm zum Überleben gespeichert, man müsse es nur laufen lassen. Eingriffe von außen behinderten demnach nur dieses Programm. Ein natürliches Gleichgewicht, das könne nicht der Winzer durch Düngung oder chemischen Pflanzenschutz erreichen, das könne nur die Natur selbst herstellen.
Das Prinzip Eigenverantwortung will er seinen Kindern also beibringen. Und so geht er auch nur dreimal im Jahr durch den Weingarten, während andere Winzer 10 oder 12 mal im Jahr ihre Reben bearbeiten. 40.000 Kindern ständig die Haare schneiden zum Beispiel klingt aufwendig. Und so schneidet Söll ihnen eben nicht ständig die Blätter. Auf das Abschneiden von Blättern, die den Rebstock mit Nahrung versorgen, reagiert dieser nämlich mit dem Austrieb von Ersatzblättern – sogenannter Geiztriebe. Das hört sich schlecht an und das ist es auch. Der Geiztrieb versorgt den Stock nämlich zunächst 30 Tage lang nicht und verwertbare Trauben trägt er später auch nicht. In der Folge muss gespritzt werden. Darum bleibt an den Söll’schen Reben Wildwuchs erst einmal hängen. Man sieht es ihnen an: Um beim Haareschneiden-Vergleich zu bleiben: Wahre Punks mit wirren Frisuren finden sich unter den Reben, wo andernorts der genormte Kurzhaarschnitt dominiert.
Besser gewappnet gegen Klimaextreme
Wachsen sollen die Kinder auch von selbst. Auf Düngung verzichtet der Winzer gänzlich. Das schont zum einen natürlich den Boden. Zudem wachsen die Trauben aber auch langsamer, wodurch die Wurzeln bis in tiefere Schichten reichen und mehr Mineralien aufnehmen – und ein Mehr an Geschmack gleich mit. Langsameres Wachstum und tiefe Verwurzelung machen sie aber auch widerstandsfähiger gegenüber Krankheiten. Und so kann Hannes Söll auf Pestizide weitgehend verzichten, was noch einmal die Umwelt schont.
Und das langsame Wachstum hat einen weiteren wichtigen Vorteil: Es macht unabhängiger von klimatischen Extremereignissen. Häufig kommt es zu spätem Frost Ende April, gepaart mit Regen. Wenn die Reben dann bereits ausgetrieben haben, gehen viele ein. Bei Hannes Söll treiben sie dagegen erst im Juni aus und so ist er von Frösten und Feuchtigkeit im späten Frühjahr weniger betroffen.
Ein besonderes Tröpfchen
So eine Führung durch den Weingarten ist nicht nur informativ, auch die Stimmung nimmt in ihrem Verlauf Fahrt auf. Schuld daran sind die Erzeugnisse der Söll’schen Weinberge. An jeder Station gibt es nämlich eine Rebsorte zu verkosten. Welschriesling, Weißburgunder, Sauvignon Blanc, Gelber Muskateller.
Denn gibt es noch einen roten Machrima: Ma – was? Ich bin nicht der größte Weinkenner, die gängigen Rebsorten kenne ich aber und diese ist mir noch nie untergekommen. “Das ist die Abkürzung für Matthias, Christian, Maria. Unsere drei Kinder.” – Ahh. Alle übrigens in sehr guten Jahrgängen zur Welt gekommen – ein gutes Omen!
Die Dramaturgie der Weinfolge stimmt, die Aufmerksamkeit sinkt hoffentlich nicht in dem Maße wie die Stimmung steigt. Denn zum Ende gibt es noch einen Höhepunkt. Die Gruppe, die neben mir zum größten Teil aus der Belegschaft einer obersteirischen Bank-Filiale besteht, wird in den Keller geführt. Der Keller ist wirklich einer: eng und in altem Gemäuer. Auch hier weicht Söll bei manchen Dingen von der Praxis anderer Weinbauern ab. So reguliert er die Temperatur des Weines nicht. Variiert der Wein bei Temperatur im Vergleich zum Vorjahr, wird er auch anderes schmecken als in anderen Jahren. So ist das eben – Wein ist Naturprodukt, womit wir wieder beim Thema wären.
Neben anderen Fässern lagert hier ein besonderer Schatz. Hannes Söll stellt den Inhalt eines Fasses vor, in dem er vor 15 Jahren Süßwein eingelagert hat und mit diesem bei Lagerung und Gärung seither experimentiert. Natürlich gibt es auch von diesem einen kleinen Schluck zu probieren. Wenn ich schreibe, der Geschmack liegt zwischen einem süßen Auslese-Wein, Sherry und einem edlen Weinbrand, trifft es das nur unzureichend. Denn das ist einer der köstlichsten Tropfen, den ich je im Mund hatte.
Flüssige und feste Leckereien
Die Führung ist beendet, der Pegel gut eingestellt – sowohl der Wein- wie auch der Wissenspegel. Nun bedarf es einer Grundlage im Magen. Die kommt auf der Terrasse des Weinguts in Form einer Jause daher. Der lange Tisch quillt über vor Schinken, Salami, verschiedenen Käsesorten, Käferbohnensalat und anderen Leckereien aus eigener Produktion.
Alles badet wohldosiert in Kernöl. Die Weinbewanderten genießen die Produkte der Umgebung, während sie inmitten herbstbelaubter Hügel in der Oktobersonne sitzen. Dazu laufen weitere Flaschen guten Weins leer. Ein ziemlich perfekter Tag im Rebenparadies. Das alles mit dem beruhigenden Wissen, dass man die Zutaten zu solch einem opulenten Mal auch zu naturschonenden Bedingungen anbauen und produzieren kann.
Jeder kann etwas tun
Hannes Söll gibt dann auch den Teilnehmern der Weinwanderung ein Anliegen mit auf den Weg: Wir alle können etwas dazu beitragen, die Biosphäre zu schützen, der wir solch Köstliches wie den Wein der Südsteiermark zu verdanken haben. Regional und saisonal konsumieren, Massenware meiden. Bei alltäglichem Handeln einfach mal an die Konsequenzen denken. Eigentlich selbstverständlich, vielfach heruntergebetet und doch oft nicht befolgt. Hier beim naturnahen Weinbau wird alles greifbar. Allerdings werden viele Besucher einer so schönen Landschaft kurzfristig zu großen Naturschützern. Der Missing Link zum Handeln – wer baut ihn?
Naturnah arbeitende Weinbauern jedenfalls nehmen ein hohes Risiko in Kauf. Söll hat nach seinen Lehrjahren das elterliche Erbe auf einem konventionell wirtschaftenden Hof ausgeschlagen und einen eigenen Hof eröffnet, um seine Philosophie zu verfolgen. Das System jedoch, das auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet ist, belohnt nachhaltiges Denken und Handeln nicht eben. Zwar hilft die naturnahe Bewirtschaftung, Arbeit und Materialeinsatz einzusparen. Besonders profitiert die Umwelt, der Pestizide erspart bleiben, ebenso wie unser aller Gesundheit. Dauerhaft zahlt sich eine schonenden Behandlung des Bodens allemal für die Erträge aus. Doch bis Hannes Söll so weit war, dass sich seine Bewirtschaftungsweise auch für seinen Hof auszahlte, dauerte es. Gerade zu Beginn ist das Risiko von Missernten hoch, sagt der Winzer. Banken jedoch verlangen pünktliche Ratenzahlungen bei Kreditvergabe. “Da gibt es eine schwierige Zeit, die man einfach überstehen muss”, sagt Söll. Insofern sind die Bankbediensteten vielleicht das passendste Publikum für einen Rundgang.
Edel, ökologisch und sozial
Für Söll spielt neben der Naturverträglichkeit seines Wirtschaftens auch der Faktor Mensch eine große Rolle. Seine Reben werden fast ausschließlich von Hand bearbeitet und auch bei der Verarbeitung kommt neben Maschinen viel menschliche Arbeitskraft zum Einsatz. Man kann es sich gut vorstellen, dass menschliche Erfahrung und Hände am besten mit dem notwendigen Feingefühl auf die individuellen Bedürfnisse der Reben eingehen. Gleichzeitig werden auf diese Weise Menschen in die Herstellung des Terroir-Produkts Wein einbezogen. Ökologisch und sozial geht eben auch gut zusammen.
Der Verkauf am Weingut geschieht im historischen Sudhaus, das mit seinen verwitterten Holzbalken im Innern irgendwie zur Hartnäckigkeit seines Besitzers passt, der dem Zeitgeist des “immer mehr, immer schneller” erfolgreich trotzt. Darin kann man auch eine Kleinigkeit essen oder auch nur eine kleine Weinprobe nehmen.
Wer auf dem Weingut Söll inmitten schöner Rebenberge längere Zeit verbringen möchte: Es gibt fünf modern eingerichtete Zimmer. Dass man dann nachts im Mondschein Hannes Söll durch seine Reben streifen sieht, muss man eher nicht erwarten. Denn auch wenn der Weinbauer sich bei Lese wie anderen Arbeiten nach Mondphasen richtet, wird die Arbeit wohl eher tagsüber verrichtet. Wenn man bedenkt, welche Wirkungen der Mond auf den Meeresspiegel hat, warum soll er nicht den Zustand von Pflanzen beeinflussen, deren Inneres weitgehend flüssig ist..
Die Südsteirische Weinstraße ist ein echter Panoramaweg. Wein und Jause im Buschenschank genießt man in Lagen, die mindestens zu einer Seite eine tolle Aussicht bieten. Ganz besonders ist mein Herz gewonnen, wenn ich in einer Stube mit historischem Interieur sitze und verwitterte Holzbalken den Himmel tragen. Zwei Beispiele, für die das Wort “urig” im besten Sinne angebracht ist.
Köstliches aus der Küche, als Krönung: Kernöl und Kriecherl
Schönes Ambiente, gutes Essen und sympathische Wirtsleut: Passt irgendwie alles im Wirtshaus Schramm. Das Gemäuer war ein altes Winzerhaus und das sieht man ihm auch heute noch an. Die Landschaft betrachtet man durch kleinen Fenster. Mit der authentischen Holzbohlendecke und den roh verputzen Wänden kommt so auch abends Gemütlichkeit auf.
Warmes Licht und eine eben solche Atmosphäre prägen die Gaststube. Die vielen Sonnenblumen, die sie jetzt im Herbst schmücken, unterstreichen das und beleben zugleich. Teils schmückt hölzernes Mobiliar aus historischen Zeiten die Räume, teils ergänzen liebevolle Details die Gaststube.
Das Äußere passt wiederum perfekt zur Küche des Hauses. Denn hier wird hochklassig und gleichzeitig regional und saisonal gekocht. Herta Schramm nutzt beste Zutaten von den Landwirten der Umgebung. Die Karte ist übersichtlich – das zeugt davon, dass man sich hier auf die Kernkompetenzen konzentriert. Beiriedschnitte, Saiblingfilet aus heimischen Teichen sowie das typische steirische Backhendl stehen auf der Karte. Ein Genuss auch das Schweinefilet mit Schwammerlrisotto.
Räumliche Offenheit und die Nähe zur Theke prägen die Stimmung. Denn das wohlschmeckende Essen und die guten Getränke werden im Restaurant Schramm von herzlichen und kommunikativen Menschen präsentiert. Da wird auch mal ein Wein empfohlen, der mir bestimmt schmecke, da mir ja dieser und jener andere zuvor ja bereits mundete. So klappt das mit dem Wohlfühlen.
Das lässt erahnen, dass ich mein Urteil zumindest innerlich bereits fällte, bevor die fortgeschrittenen Weine an der Reihe waren. Die kommen selbstverständlich von Weingütern der Region. Das Spannende daran: Ist man schon ein paar Tage der Gegend, verbindet man mit manchen Namen einen bestimmten Ort, den man bereits erwandert oder zumindest gesehen hat. Das gibt dem Genuss eine weitere Dimension. Man trinkt förmlich ein Stück der herrlichen Umgebung. Mein Favorit hier: Roter Sernauberg – ein edler Granat zwischen den vielen Weißen.
Wo Steirer Köstlichkeiten servieren, da bleibt kaum ein Gericht Kernöl-frei. Auch nicht das Eis. Und das ist auch gut so. Schwer vorstellbar vielleicht, aber mitsamt den Kürbiskernen als Krokant wächst hier zusammen, was zusammen gehören darf.
Auf all die Köstlichkeiten zum Abschluss einen Kriecherl. Die Frucht, der dieses Wässerchen zu verdanken ist, nennt man in weiten Teilen der deutschsprachigen Welt auch Mirabelle. Aber ehrlich: Klingt Kriecherl nicht irgendwie besser oder zumindest lautmalerisch? Wichtig: beim Vokal Mund in die Breite ziehen, das “ch” hart aussprechen. So wird das nach dem umfangreichen Mahl unweigerlich aufkommende Völlegefühl im Bauch förmlich zerhackstückelt.
Dabei ein kleines Gespräch mit Werner Schramm, der es genau wie ich schwer verstehen kann, dass viele Menschen bei dem, was sie über ihren Körper ziehen mehr Wert auf Luxus und Status achten, als bei den Dingen, die den Weg in den Körper finden. Zur Untermalung reicht er mir zum Abschluss naturtrüben Apfelsaft und Traubensaft aus der Gegend – so wie sie natürlich schmecken.
Auch außerhalb der von mir so geschätzten Gaststube ist es schön im Gasthaus Schramm: Die Terrasse liegt unmittelbar oberhalb steil abfallender Weinberge, man blickt über ein weites Tal auf die Hügel und Berge im Süden, die sich von hier aus gesehen malerisch übereinander türmen.
Gleich neben der Terrasse lässt sich zudem auf ein paar Liegestühlen chillen.
Altes Steinhaus
Noch etwas uriger sieht es im und rund um das Steinhaus des Weinguts Silly aus. Die gesamte Bausubstanz des alten Winzerhauses ist authentisch geblieben, mit Pergola-überdachter Terrasse. Hier ist allerdings kein richtiges Restaurant eingezogen, vielmehr gibt es hier zum Wein das, was Gerald Silly gerade anzubieten hat. Dabei achtet er darauf, dass es sich um beste saisonale Erzeugnisse der Region handelt.
Am historischen Herd in der Küche, die den Luxus des Einfachen versprüht, werden Kleinigkeiten wie Kaiserschmarrn oder ein Parmesan mit Isabellatraubengelee zubereitet.
Man kann diese Örtlichkeit aber auch für ein opulenteres Mehr-Gänge-Menü buchen.
Und so speist man in der gemütlichen Stube genauso gut wie auf der Terrasse mit wunderschönem Ausblick nach Slowenien. Wobei – wenn man ganz genau ist, befinden wir uns bereits auf slowenischem Gebiet. Die Südsteirische Weinstraße bildet hier die Grenze, aber das ist ohnehin nur unnötiges Randwissen und die Grenze nur auf Karten existent. Der ein oder andere Tisch steht auch auf dem Rasen unter Obstbäume.
Beide Lokalitäten bieten eine große Gastlichkeit und Genuss in individuellem Stil. Dafür sorgen Lage und herzliche Gastgeber, mit denen man über Wein, Landschaft und Weltgeschehen ratschen kann. Man hat das Gefühl, eine Entdeckung zu machen. Das historische Ambiente ist nicht bloß Fassade – mit ein bisschen Lack die Nostalgie bedient, sondern Authentizität in alten Gemäuern.
Der Buschenschank von Eva Lambauer liegt an einem der vielen schönen Aussichtspunkte der Südsteirischen Weinstraße. Der Blick in die Landschaft ist großartig – besonders Frühaufsteher werden belohnt. In den gemütlichen Gasträumen gibt es eigenen Wein und kalte Köstlichkeiten.
Das Morgenrot war heute wieder unglaublich, sagt Eva Lambauer. Ich frage, wann das gewesen sei. “Ach, um 6:30.” Mist – wieder verpasst. Was muss ich auch immer so lange schlafen …! Allerdings bietet der Himmel auch Stunden später noch ein schönes Spektakel. Wenn sich die Morgensonne über die Weinberge emporhebt und sie in ein warmes licht taucht zum Beispiel. Ein Gefühl tiefer Ruhe stellt sich ein, nur gestört von den wenigen Autos, die um diese Uhrzeit auf der Südsteirischen Weinstraße unterwegs sind. Tief im Tal hängender Frühnebel hat dagegen etwas Mystisches. Der Blick weitet sich nach Osten, teilweise weit ins benachbarte Slowenien hinein. Und diese Aussicht ist natürlich zu jeder Tageszeit schön.
An diesem Vormittag geht es am Steilhang unterhalb des Buschenschanks quirlig zu. Es ist Lesetag. Die reifen Trauben, die später einmal in gekelterter Form in Eva Lambauers Buschenschank auf den Tisch kommen, finden erst einmal den Weg in die Kelterei des Weinguts Tement, wo sie für Lambauer gekeltert werden.
In Lambauers Buschenschank munden die Tropfen dann zu Käferbohnensalat, Gemischtem Käseteller, Hausterrine mit Salat und Apfelkren. Oder zu einer Sulz (Sülze) mit Rettich und Kernöl. Überhaupt: Kernöl! Das schwarze Gold der Steiermark veredelt so einiges an Gerichten aus einfachen Zutaten. Ich schlemme mich durch die kalten Speisen, und ich werde immer mehr zum Fan des Kernöls. Besonderes Schmankerl und nicht jeden Tag erhältlich: Ziegenkäse mit Honig. Ja, der Städter kennt die Kombi aus vielen Cafés, aber man glaube mir: Das schmeckt hier anders. Spezieller!
Natürlich trägt zum Geschmackserlebnis auch die Umgebung dabei, die ohne Übertreibung zauberhaft zu nennen ist. Auch am späten Nachmittag, wenn die Sonne gerade noch über die Hügel im Westen lugt – in dieser Richtung müsste man für den Weitblick etwas gehen – ist das Idyll im Garten des Lambauerschen’ Buschenschanks in warmes Licht getaucht. Ich sitze von Bäumen beschattet und genieße Ruhe, saftiges Grün und Landluft um mich herum zu den kalten Köstlichkeiten.
Das Äußere wie das Innere des Hauses sind ein bisschen untypisch für die Steirische Weinstraße, wo historische Gebäude meist von der einfachen bäuerlichen Kultur zeugen. Das liegt an seiner Geschichte. Ein General der k. & k. Armee, der aus städtischen Gefilden in die Region verlegt wurde, ließ sich das Haus im 19. Jahrhundert erbauen. Detailgetreu renoviert, erinnert das Ambiente an klassische Stadthäuser. Heute lebt und genießt es sich gut unter hohen Decken und umgeben von Möbeln im Stil des Biedermeier.
Seit vielen Jahren führt Eva Lambauer das Haus und bewirtet gemeinsam mit ihrer 89jährigen Mutter Gäste – solche, die in den Zimmern des Hauses ihren Urlaub verbringen oder nur für einen Buschenschank-Besuch hereinkommen. Dabei wissen beide manche Anekdote oder Begebenheit aus der Küche der Weinlegenden zu berichten. Auch Empfehlungen der schönsten Plätze der Umgebung bekommt man ungefragt.
Wein, Kernöl und all die anderen Köstlichkeiten der Umgebung schmecken scheinbar nicht nur, sondern sind gleichermaßen Kommunikationsverstärker und Jungbrunnen für Körper und Geist.
In Viñales gibt es sie noch mehr als sonst in Cuba: Bäuerliche Kleinbetriebe. Das Who-is-who der tropischen Früchte wird hier nebeneinander auf kleinstem Raum angebaut. Da lohnt es sehr, sich mal genauer umzuschauen und sich von netten Campesinos Erklärungen und Kostproben einzuholen.
Aha, El Triste heißt er also, dieser nette Typ, der mich hier über seine Farm führt.
Ein kleines Schild an der Straße hat mich neugierig gemacht und so bin ich mit meinem Mietfahrrad auf die rote Sandpiste abgebogen, die schnurstracks in Richtung Felswand von einem der Morcotes von Viñales führt. Nach geschätzten 500 Metern führt die Piste auf ein Farmgelände, ohne dass es eine klare Grundstücksgrenze gibt. Im Schatten steht ziemlich entspannt ein Campesino. Er grüßt und bedeutet mir: Komm her, ich zeig dir mal was.
„El Triste – das ist doch nicht dein wirklicher Name, ein Spitzname.“ – „Ja, in Wirklichkeit heiße ich Rodovaldo“ –„Also: Eres triste?“ („bist du traurig?“)
Es folgt eine ruhig und langsam ausgeführte ausladende Bewegung mit den Armen, die nur bedeuten kann: Ja klar, Mann, merkt man das nicht? „Warum?“ – „Ah, das Leben generell, Sorgen um die Ernte, die Preise…“
Mehr als zwei Stunden hat mir El Triste beziehungsweise Rodovaldo erklärt und vorgestellt, was auf seiner kleinen Farm alles angebaut wird. Und das ist eine ganze Menge. Da sind zunächst die Avocados, die gerade am Baum wachsen. Geerntet werden sie im Hochsommer. Sie machen einen großen Teil des Areals aus. Während der gesamten Zeit des Herumführens hat er eine dicke Zigarre im Mund – mir hatte er auch eine angeboten, aber ich belasse es lieber bei einer pro Tag und die Zeit dazu ist abends nach jeder anstrengenden körperlichen Aktivität wie Fahrradfahren.
Zahlreich vertreten sind auch Papaya-Bäume, aber halt: Die heißen hier Fruta bomba, klingt doch gleich viel schärfer. Die Bäume der bombigen Frucht stehen gar in Reih und Glied, wie sonst kaum etwas sonst hier. Zwischen den dünnen Bäumchen laufen Katzen, Hunde und Schweine herum.
In 2 bis 3 Metern Höhe hängen viele dicke Früchte, die allermeisten noch völlig grün, dazwischen wie zum Kontrast ab und an eine prall-orangene. Die Ernte ist im Hochsommer, es gibt aber scheinbar einige frühreife Exemplare.
Eine von denen holt mir El Triste vom Baum, schneidet sie mit seinem riesigen Messer, das er nie ablegt, auf und gibt mir ein Achtel davon zum Probieren. Schmeckt köstlich. Mir ist irgendwie klar, das ich so bald keine im deutschen Supermarkt gekaufte Papaya mehr essen werde können.
Das Problem: Wie man beim Wein verkosten lernt, bewegt man sich langsam in Richtung der intensiver schmeckenden Tropfen, das wäre auch hier das Beste. Doch vor der Fruta bomba gab mir El Triste schon einen Teil einer Mamey zu essen. Die ist ähnlich groß wie eine Papaya. Aber gegen die Mamey ist die Papaya geschmacksarm, denn die Mamey ist das Filetstückchen unter den ganzen Früchten. Sie ist unglaublich saftig, aber nicht wässrig, vollmundig-süß. Schwer zu glauben, dass man sie in Europa noch nicht im großen Rahmen nachfragt.
Ganze vier Hektar groß ist das Anwesen von Rodovaldo und seinem Bruder Rigelio.
Natürlich wachsen hier die üblichen Verdächtigen unter den kubanischen Kulturpflanzen: Palmen, Kaffee, Bananen, Tabak. Dazu bestimmte Zitronensorten und auch eine Sorte Kohl – Calabasa – ist vertreten.
In einem großen Schuppen, dessen Außenhaut aus getrockneten Palmblättern besteht, trocknen Tabakblätter vor sich hin.
Die zwei Brüder – Rigelio ist mittlerweile hinzugekommen – beklagen, dass für sie als Campesinos die rasante touristische Entwicklung in Viñales nicht sehr positiv verläuft. Die Besitzer der Casa Particulares im Ort, und das sind mittlerweile Tausende, verdienen sich seit ein paar Jahren dumm und dämlich und zerstören so die Preise in der Region. Sie, die Bauern, verdienen nicht mehr als zuvor und geraten so immer mehr ins Hintertreffen.
Ja ja, das Paradies: Wehe, wenn es von zu vielen entdeckt wird…
Und das Paradies ist auch noch fragil. Es war im Jahr 2008, als Hurricane Ike ganz Cuba verwüstete. Die Felder von Rodovaldo und Rigelio wurden dabei genau wie das ganze Tal von Viñales komplett überflutet. Ich sehe mich um, betrachte all die Üppigkeit dieser fruchtbaren Landschaft und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ihr alles unter Wassermassen steht und danach entsprechend verwüstet ist. Dass die Bauern, wenn sie derart getroffen werden, danach einfach alles wieder aufbauen und einfach weitermachen: Respekt! An Wirbelstürme gewöhnt sind sie ja in Cuba, doch Ike 2008 war nach Berichten der schlimmste Hurricane, der das Land je traf. Und mittlerweile gab es weitere dieser Art. Besonders schlimm betroffen ist zum Glück nicht immer das gesamte Land, so war Viñales bis dato nicht erneut schlimm betroffen. Leider muss man wohl erwarten, dass der Klimawandel zukünftig häufiger solche Extremereignisse befördert. Wie die Campesinos damit dann zurechtkommen: Ich mag es mir gerade nicht ausmalen. Besonders ungerecht kommt mir auch an dieser Sättel vor: Die Bauern in einem Land wie Cuba leben sehr einfach. Auto fahren sie kaum, es gibt höchstens mal Hühnchenfleisch, ansonsten Gemüse. Die zwei Brüder hier leben mit nur wenigen Stunden Strom am tag. Sie haben den Klimawandel so ganz und gar nicht zu verantworten. Sie aber leiden darunter.
Ich kaufe mehrere Mamey, gebe die Menge Geld, die ich selbst für die kleine Führung für angemessen halte und verspreche, Fotos zu schicken, wie es andere “Amigos” aus den Touristen-Herkunftsländern auch schon getan haben. Alles Gute euch beiden hier auf der Farm!
Claudette und Mathilde halten den ganzen Treck auf. Sie sind aufgeregt. Das liegt in diesem Fall an mir. Als Besucher und Fotograf bin ich nun mal ein Fremdkörper und bringe ihre Alltagsroutine etwas durcheinander. Im Gegensatz zu den anderen in der Gruppe möchten die beiden Damen den Fremden etwas genauer inspizieren und gehen den alltäglichen Weg nicht ohne weiteres. Doch eigentlich läuft ja alles wie immer: Es ist 18:30 und zum zweiten Mal heute geht es hinaus ins Freie.
Bergwiesen mit gesundem Wildwuchs warten auf Claudette, Mathilde und die anderen Ziegen. Was da alles wächst, schmeckt nicht nur, es ist zum Teil auch beste Naturmedizin. Viele Kräuter gedeihen hier auf 900 bis 1.100 Metern Höhe über dem Vallée du Jabron in der Provence, wo keine Pestizide und auch keine anderen Nutzungen dem Wildwuchs etwas anhaben können.
Mit seinem Hund führt Remy seine 33 Damen hinaus in die Natur, nur die ersten Meter muss er sie begleiten – weiter oben finden sie schon alle ihr Naturfutter und den weg zurück finden sie ohnehin.
Am Morgen hat Remy Gorge sie bereits auf die Alm gelassen, um 8 Uhr. Wenn es ihnen dann zu heiß wird, was im Juli in der Bergen der Provence unweigerlich passiert, kommen sie von selbst zurück zum Stall. Meist passiert das gegen 11 Uhr. Abends treten sie den Heimweg zum Stall an, wenn es dunkel wird. Sicher kommen sie auch gerne zurück, schließlich geht es ihnen gut auf dem Hof von Remy. Gemolken wird zwar in beengter Atmosphäre, aber ansonsten führen die Tiere ein angenehmes Leben.
Der 57jährige betreibt die Ziegenzucht ganz nach biologischen Prinzipien. Dazu zählt nicht nur, dass die Tiere einen guten Teil ihres Lebens im Freien verbringen, sie bekommen auch natürliches Futter, das in der Region wächst.
Das schmeckt man dem Käse, den Remy aus der Ziegenmilch auf dem Hof herstellt, wiederum an.
Jeden Samstag fährt Remy in aller Früh nach Aix-en-Provence, um den Käse auf dem Markt zu verkaufen. Im Tal des Jabron gibt es zu viele Käsereien und zu wenige Abnehmer, als dass alle Bauern ihren Ziegenkäse hier vermarkten könnten. Nubichon nennt er sein Produkt. Ein selbst kreierter Eigenname, angelehnt an die Herkunft von zwei seiner drei Böcke, die von einer nordafrikanischer Ziegenrasse abstammen.
Die Böcke bleiben übrigens drinnen, während die weiblichen Ziegen auf Tour sind – das wäre dann doch etwas zuviel Aufregung durch eine freies Aufeinandertreffen der Geschlechter und Free love wäre wohl nicht im Sinnen des Ziegenzüchters. Die drei Jungs haben aber auch im Stall eine Menge Spaß.
Auch die kranken und die ganz jungen Tiere werden nicht dem Treiben in der Natur ausgesetzt. Vor dem Ausgang morgens und abends werden die weiblichen Tiere gemolken und bekommen Kraftfutter – aus eigener Herstellung. Remy beschreibt sich als 4 Personen in einem: Er ist Ziegenwirt, Ziegenkäse-Hersteller und Vermarkter seiner eigenen Produkte. Und er baut das Heu für die Fütterung selbst an. Dass es sich um Gentechnik- und Antibiotika-freies Futter handelt, ist schließlich ein wichtiges Kriterium für die Bio-Qualität.
Insgesamt kann er gut leben von seinem Hof mit den Ziegen, er ist nicht zwingend auf Subventionen angewiesen, was für ihn Sicherheit und Unabhängigkeit bedeutet.
Natürlich ist das Leben als kleiner Bio-Landwirt kein leichtes. Die Ziegen wie das Geschäft kennen eben weder Wochenende noch Urlaub. Von Januar bis Oktober ist für Remy ein Tag wie der andere. Nur im Winter von November bis Januar, wenn die Ziegen trächtig sind, hat er wenig zu tun. Dann macht er ausgiebig Urlaub.
Er hat sich vor 37 Jahren ganz bewusst für diesen Weg entschieden. In Paris war ihm ein Platz in der Eisenbahngesellschaft sicher, aber das tägliche Einerlei zwischen Büro und städtischer Tristesse wollte er sich nicht antun. So zog er hierher, um einer Berufung nachzugehen. Sich eins fühlen mit dem was er tut, keinem Chef gehorchen. Die einzigen, die sein Handeln bestimmen, sind die Natur und seine Ziegen.
Schwer, in dieser Landschaft nicht ins Schwärmen zu geraten. Man wandelt zwischen Weinbergen und blickt über den größten See Mitteleuropas hinüber zu den Savoyer Alpen. Eine spektakuläre Topographie liegt vor einem: Der Kontrast zwischen ebener Wasserfläche und himmelhohen Bergen.
Da sitze ich bei traumhaftem Spätherbst-Wetter in der Auberge du Vigneron in Epesses und denke: ‘Arkadien gibt’s wirklich’. Das Leben erscheint gerade unheimlich leicht, die Sonne wärmt, die Landschaft wabert in warmen Herbsttönen. Und dann plötzlich: Hart arbeitende Menschen im Schweiße ihres Angesichts gleich neben mir: Unterhalb der Café-Terrasse ein steile Weinlage. Die Leute nutzen das schöne Wetter zur Weinlese – am nächsten Tag soll es wieder regnen. Dass sie die Trauben in mühsamer Handarbeit ernten, verleiht dem Bild etwas Bukolisches. Das Gelände ist steil, Maschinen kaum einsetzbar, die Flächen der Weingüter sind extrem klein. Nur die Plastikeimer auf dem Rücken rauben das Gefühl, in ein vorvergangenes Jahrhundert enteilt zu sein. Mit den Eimern als Rucksack geht es den steilen Hang hinauf und man sieht es in den Gesichtern, wie hart das in der brennenden Oktobersonne ist.
Viele Weingüter greifen heutzutage allerdings zu modernen technischen Mitteln. Dort wo der gesamte Weinberg steil ist und die Kapazitäten größer, fliegen Helikopter große mit Trauben gefüllte Tonnen aus dem Weinberg zur nächsten Straße. Nicht ganz so romantisch, aber sicher der einfacherer Weg. Die Winzer erzählen davon, dass in früheren Zeiten Studenten und Auszubildende aus anderen Teilen der Schweiz zur Weinlese kamen. Verschiedene Gründe haben diese Hilfe abebben lassen. Studenten beispielsweise beginnen heute ihr Semester Mitte September, nicht wie früher Mitte Oktober, womit sie für die Zeit der Weinlese ausfallen.
Die Trauben finden ihren Weg in die Weine von Yvan Duboux, die man auch gleich vor Ort kaufen kann. In dem kleinen Ort mit engen Gassen wirkt alles miteinander verbunden. Wenn ein paar Reisebusse weniger da wären und man ganz unbeschwert zwischen den Rebstöcken hin- und herschweifen könnte, wäre das hier das richtige Paradies. Aber dafür ist der Quadratmeter Boden hier wohl einfach zu wertvoll…
Genaros tuckernder Minitraktor, eine Mischung aus Piaggio und Militärtransporter, steuert auf den Abgrund zu. Erst im letzten Moment sieht man, dass es hinter der Geländekante weiter geht – mit schätzungsweise 30% Gefälle. Dass das Gefährt hier diszipliniert runterrollt, scheinbar im 0,25ten Gang oder so – extra für das Steile gemacht – ist erstaunlich und entspannend. Vom Dorf Civita aus, das wie auf einer Terrasse hoch über der Raganello-Schlucht liegt, geht es scheinbar endlos den steilen Weg bergab, bis man ganz unten am Fuß der felsigen Berge ist, auf der Südseite des Monte Pollino. In dieser geschützten Lage ist es wahrscheinlich besonders in kühleren Jahreszeiten noch milder als im Dorf in seiner Plateau-Lage und es gibt daher beste Bedingungen für wärmeliebende Pflanzen. Auch wenn der Unterschied jetzt, Anfang Mai, kaum wahrnehmbar ist. Seit Tagen brennt die Sonne tagsüber das Hirn durch. Auch wenn man sich hier geographisch in den Bergen wähnt, liegt der Ort doch nicht mal 500 Meter über dem Meeresspiegel – beste Bedingungen also für allerlei südliche Pflanzen. Hier unten im Tal liegen nur ein paar kleine Parzellen mit Obst- und Gemüseanbau, umgeben von Felsen wie in einer Wildwest-Szenerie. Hier hat auch Genaro Pistocchi seine Obstbäume. Vieles, was hier wächst, hat das mitteleuropäische Auge noch nie erblickt. Die chinesischen Mandarinen beispielsweise, sehr klein und wie ein American Football geformt. Die kann man mit Schale essen – auch weil sie nicht gespritzt sind. Hineinbeißen ist wahrscheinlich dennoch nicht jedermanns Sache – das Saure dominiert im Geschmack eindeutig. Die Konsistenz liegt irgendwo zwischen Physalis und Orange. Es sind nur ein paar Bäume, aber die hängen reichlich voll von den kleinen orangefarbenen Früchten. An anderen warten Zitronen und Orangen darauf, vom Baum genommen zu werden. Manche Zitrusfrüchte verweigern sich mit ihren eigenwilligen Formen wohltuend den EU-Normen. Der Piretto – ich nehme wegen der männlichen Namensendung mal an, mit männlichem Artikel – gehört dazu. Wie viele verschiedene Arten hier auf den paar Quadratmetern wachsen, habe ich nicht ganz verstanden, vom Gefühl her ist jeder Baum seine eigene Art.
Manche dieser Früchte haben Geschmäcker wie man es sich bei mitteleuropäischem Marktangebot kaum vorstellen kann, die besonders abweichenden tendieren eindeutig in die süße Richtung. Genaros Frau Angela jedenfalls veredelt einige der Früchte zu Marmelade und Hochprozentigem. So gibt es neben Orangen-, Feigen-, Waldbeeren-Marmelade auch Liköre wie Limoncello und Lakritzlikör, alles nur in kleinen Mengen und meist für den eigenen Gebrauch.
Civita hat nicht nur viele besondere Früchte auf seinen Flächen zu bieten, es hütet auch eine besondere Geschichte. Das Dorf gehört zu den insgesamt 56 über ganz verteilten Gemeinden, in denen Mitglieder der Arbëresh leben, Nachkommen der vor 600 Jahren vor den Osmanen aus Albanien geflohenen Christen. In Civita leben die vielen Nachkommen dieser frühen Flüchtlinge ihre Tradition noch ziemlich bewusst. Jedes Jahr Anfang Mai feiert man den Geburtstag des Nationalhelden Skanderbeg, Verteidiger gegen die Osmanen.
Interessantes zeit sich auch in den Gebäuden. Manche der alten Häuser haben Gesichter. Das ist kein Scherz und auch nicht dem guten Wein des Ortes geschuldet. Als Casa Codra bezeichnet man ein Haus, das sich in seiner Fassade zwei Augen, eine lange Nase – dabei handelt es sich meist um einen Schornstein – und einen ziemlich gierig, weil weit, geöffneten Mund präsentiert. Häufig sind diese Häuser aber nicht, man muss sie im Gassengewirr gut suchen.
Apropos Wein: der wird natürlich auch im Ort kredenzt. Das macht unter anderem Agostino Cerchiara. In seiner Kelterei werden jedes Jahr 4.000 Liter roter Rebensaft abgefüllt. Etwas außerhalb des Ortes züchtet Agostino außerdem eine besondere Delikatesse. Auf einer kleinen Gartenfläche wachsen in üppig wuchernden Sträuchern Schnecken heran.
Nicht wenige Regionen bedienen sich, um ihre touristisch zu vermarktenden Eigenheiten gebührend anzupreisen, gerne bei berühmten Namen. So bringt es die Welt laut Schweiztourismus auf 191 Schweizen, das tatsächliche Land inbegriffen, die Neue Zürcher zählt gar 233 Regionen, die sich des Namens bemächtigen, und wer weiß wie viele Hügel zwischen Estland, Hokkaido und Swasiland da noch unberücksichtigt geblieben sind.
Zu den größenwahnsinnigen Regionen, die sich eines bedeutenden Namens bedienen, zählt auch eine kleine Gegend in der Basilika in Süd-Italien. Rund um die Dörfer Pietraportosa und Castelmezzano erstrecken sich bizarre Felsformationen – die Lukanischen Dolomiten. Diese wilden Zacken erinnern von der Form her durchaus an das Hochgebirge am nördlichen Rand des Landes, angesichts ihrer Ausmaßen wirkt der vergleich schon etwas anmaßend. Auch wenn die höchsten Erhebungen der Gegend immerhin 1.800 Meter erreichen, sind die Felsen selbst kaum mehr als hundert Meter an einem Stück hoch. Da die Felsen sich aber malerisch hinter dem farblich schön abgestimmten Häusergewirr der zwei Dörfer erstrecken, wirken sie gleich noch ein bisschen imposanter. Von der Fernverkehrsroute zwischen Salerno und der Adria geht es rechts ab, immer sanft bergauf und schließlich durch einen langen Tunnel, dahinter bauen sich die steilen Spitzen plötzlich zur Linken auf und wirken auf den ersten Blick ein bisschen wie Pappmaché-Felsen hinter dem Dorf Castelmezzano, das von jenseits des Tals gleichermaßen wie ein Kulissenort aus einem Western herübergrüßt.
Im Ort ist dann alles ganz real, es geht es gemütlich und unaufgeregt zu, dörfliches Leben wird hier noch gepflegt. Das größte Hotel möchte sich allerdings schon ein bisschen anbiedern bei der Namens geebneten Region in den norditalienischen Bergen. Um so spektakulärer geht es in der Luft über dem Tal, das Castelmazzano und Pietraportosa trennt, zu: den tiefen Geländeeinschnitt kann man nämlich in James Bond Manier überwinden – mit einem »Flug des Engels«. Per Seilrutsche rauscht man mit bis zu 120 Km/h hoch über dem Abgrund entlang und spart so fast eine Stunde Autofahrt ein, schöne Ausblicke inklusive. Ich war für dieses Vergnügen zur falschen Zeit vor Ort, bin mir aber nicht sicher, ob ich das, wenn es gerade möglich gewesen wäre, gemacht hätte. Egal ob abenteuerlustiger Urlauber oder Nahverkehrs-Konsument – ein Zwei-Minuten-Ritt durch die Wolken, Kopf voran, bedeutet sicher jedes Mal Adrenalin pur.