Claudette und Mathilde halten den ganzen Treck auf. Sie sind aufgeregt. Das liegt in diesem Fall an mir. Als Besucher und Fotograf bin ich nun mal ein Fremdkörper und bringe ihre Alltagsroutine etwas durcheinander. Im Gegensatz zu den anderen in der Gruppe möchten die beiden Damen den Fremden etwas genauer inspizieren und gehen den alltäglichen Weg nicht ohne weiteres. Doch eigentlich läuft ja alles wie immer: Es ist 18:30 und zum zweiten Mal heute geht es hinaus ins Freie.
Bergwiesen mit gesundem Wildwuchs warten auf Claudette, Mathilde und die anderen Ziegen. Was da alles wächst, schmeckt nicht nur, es ist zum Teil auch beste Naturmedizin. Viele Kräuter gedeihen hier auf 900 bis 1.100 Metern Höhe über dem Vallée du Jabron in der Provence, wo keine Pestizide und auch keine anderen Nutzungen dem Wildwuchs etwas anhaben können.
Mit seinem Hund führt Remy seine 33 Damen hinaus in die Natur, nur die ersten Meter muss er sie begleiten – weiter oben finden sie schon alle ihr Naturfutter und den weg zurück finden sie ohnehin.
Am Morgen hat Remy Gorge sie bereits auf die Alm gelassen, um 8 Uhr. Wenn es ihnen dann zu heiß wird, was im Juli in der Bergen der Provence unweigerlich passiert, kommen sie von selbst zurück zum Stall. Meist passiert das gegen 11 Uhr. Abends treten sie den Heimweg zum Stall an, wenn es dunkel wird. Sicher kommen sie auch gerne zurück, schließlich geht es ihnen gut auf dem Hof von Remy. Gemolken wird zwar in beengter Atmosphäre, aber ansonsten führen die Tiere ein angenehmes Leben.
Der 57jährige betreibt die Ziegenzucht ganz nach biologischen Prinzipien. Dazu zählt nicht nur, dass die Tiere einen guten Teil ihres Lebens im Freien verbringen, sie bekommen auch natürliches Futter, das in der Region wächst.
Das schmeckt man dem Käse, den Remy aus der Ziegenmilch auf dem Hof herstellt, wiederum an.
Jeden Samstag fährt Remy in aller Früh nach Aix-en-Provence, um den Käse auf dem Markt zu verkaufen. Im Tal des Jabron gibt es zu viele Käsereien und zu wenige Abnehmer, als dass alle Bauern ihren Ziegenkäse hier vermarkten könnten. Nubichon nennt er sein Produkt. Ein selbst kreierter Eigenname, angelehnt an die Herkunft von zwei seiner drei Böcke, die von einer nordafrikanischer Ziegenrasse abstammen.
Die Böcke bleiben übrigens drinnen, während die weiblichen Ziegen auf Tour sind – das wäre dann doch etwas zuviel Aufregung durch eine freies Aufeinandertreffen der Geschlechter und Free love wäre wohl nicht im Sinnen des Ziegenzüchters. Die drei Jungs haben aber auch im Stall eine Menge Spaß.
Auch die kranken und die ganz jungen Tiere werden nicht dem Treiben in der Natur ausgesetzt. Vor dem Ausgang morgens und abends werden die weiblichen Tiere gemolken und bekommen Kraftfutter – aus eigener Herstellung. Remy beschreibt sich als 4 Personen in einem: Er ist Ziegenwirt, Ziegenkäse-Hersteller und Vermarkter seiner eigenen Produkte. Und er baut das Heu für die Fütterung selbst an. Dass es sich um Gentechnik- und Antibiotika-freies Futter handelt, ist schließlich ein wichtiges Kriterium für die Bio-Qualität.
Insgesamt kann er gut leben von seinem Hof mit den Ziegen, er ist nicht zwingend auf Subventionen angewiesen, was für ihn Sicherheit und Unabhängigkeit bedeutet.
Natürlich ist das Leben als kleiner Bio-Landwirt kein leichtes. Die Ziegen wie das Geschäft kennen eben weder Wochenende noch Urlaub. Von Januar bis Oktober ist für Remy ein Tag wie der andere. Nur im Winter von November bis Januar, wenn die Ziegen trächtig sind, hat er wenig zu tun. Dann macht er ausgiebig Urlaub.
Er hat sich vor 37 Jahren ganz bewusst für diesen Weg entschieden. In Paris war ihm ein Platz in der Eisenbahngesellschaft sicher, aber das tägliche Einerlei zwischen Büro und städtischer Tristesse wollte er sich nicht antun. So zog er hierher, um einer Berufung nachzugehen. Sich eins fühlen mit dem was er tut, keinem Chef gehorchen. Die einzigen, die sein Handeln bestimmen, sind die Natur und seine Ziegen.