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Juni 2015

Genuss-Orte

Die süßen Früchte von Civita

Juni 8, 2015

Genaros tuckernder Minitraktor, eine Mischung aus Piaggio und Militärtransporter, steuert auf den Abgrund zu. Erst im letzten Moment sieht man, dass es hinter der Geländekante weiter geht – mit schätzungsweise 30% Gefälle. Dass das Gefährt hier diszipliniert runterrollt, scheinbar im 0,25ten Gang oder so – extra für das Steile gemacht – ist erstaunlich und entspannend. Vom Dorf Civita aus, das wie auf einer Terrasse hoch über der Raganello-Schlucht liegt, geht es scheinbar endlos den steilen Weg bergab, bis man ganz unten am Fuß der felsigen Berge ist, auf der Südseite des Monte Pollino. In dieser geschützten Lage ist es wahrscheinlich besonders in kühleren Jahreszeiten noch milder als im Dorf in seiner Plateau-Lage und es gibt daher beste Bedingungen für wärmeliebende Pflanzen. Auch wenn der Unterschied jetzt, Anfang Mai, kaum wahrnehmbar ist. Seit Tagen brennt die Sonne tagsüber das Hirn durch. Auch wenn man sich hier geographisch in den Bergen wähnt, liegt der Ort doch nicht mal 500 Meter über dem Meeresspiegel – beste Bedingungen also für allerlei südliche Pflanzen. Hier unten im Tal liegen nur ein paar kleine Parzellen mit Obst- und Gemüseanbau, umgeben von Felsen wie in einer Wildwest-Szenerie. Hier hat auch Genaro Pistocchi seine Obstbäume. Vieles, was hier wächst, hat das mitteleuropäische Auge noch nie erblickt. Die chinesischen Mandarinen beispielsweise, sehr klein und wie ein American Football geformt. Die kann man mit Schale essen – auch weil sie nicht gespritzt sind. Hineinbeißen ist wahrscheinlich dennoch nicht jedermanns Sache – das Saure dominiert im Geschmack eindeutig. Die Konsistenz liegt irgendwo zwischen Physalis und Orange. Es sind nur ein paar Bäume, aber die hängen reichlich voll von den kleinen orangefarbenen Früchten. An anderen warten Zitronen und Orangen darauf, vom Baum genommen zu werden. Manche Zitrusfrüchte verweigern sich mit ihren eigenwilligen Formen wohltuend den EU-Normen. Der Piretto – ich nehme wegen der männlichen Namensendung mal an, mit männlichem Artikel – gehört dazu. Wie viele verschiedene Arten hier auf den paar Quadratmetern wachsen, habe ich nicht ganz verstanden, vom Gefühl her ist jeder Baum seine eigene Art.

Manche dieser Früchte haben Geschmäcker wie man es sich bei mitteleuropäischem Marktangebot kaum vorstellen kann, die besonders abweichenden tendieren eindeutig in die süße Richtung. Genaros Frau Angela jedenfalls veredelt einige der Früchte zu Marmelade und Hochprozentigem. So gibt es neben Orangen-, Feigen-, Waldbeeren-Marmelade auch Liköre wie Limoncello und Lakritzlikör, alles nur in kleinen Mengen und meist für den eigenen Gebrauch.

Civita hat nicht nur viele besondere Früchte auf seinen Flächen zu bieten, es hütet auch eine besondere Geschichte. Das Dorf gehört zu den insgesamt 56 über ganz verteilten Gemeinden, in denen Mitglieder der Arbëresh leben, Nachkommen der vor 600 Jahren vor den Osmanen aus Albanien geflohenen Christen. In Civita leben die vielen Nachkommen dieser frühen Flüchtlinge ihre Tradition noch ziemlich bewusst. Jedes Jahr Anfang Mai feiert man den Geburtstag des Nationalhelden Skanderbeg, Verteidiger gegen die Osmanen.

Interessantes zeit sich auch in den Gebäuden. Manche der alten Häuser haben Gesichter. Das ist kein Scherz und auch nicht dem guten Wein des Ortes geschuldet. Als Casa Codra bezeichnet man ein Haus, das sich in seiner Fassade zwei Augen, eine lange Nase – dabei handelt es sich meist um einen Schornstein – und einen ziemlich gierig, weil weit, geöffneten Mund präsentiert. Häufig sind diese Häuser aber nicht, man muss sie im Gassengewirr gut suchen.

Apropos Wein: der wird natürlich auch im Ort kredenzt. Das macht unter anderem Agostino Cerchiara. In seiner Kelterei werden jedes Jahr 4.000 Liter roter Rebensaft abgefüllt. Etwas außerhalb des Ortes züchtet Agostino außerdem eine besondere Delikatesse. Auf einer kleinen Gartenfläche wachsen in üppig wuchernden Sträuchern Schnecken heran.

 

 

Genuss-Orte

Die Lukanischen Dolomiten

Juni 3, 2015

Nicht wenige Regionen bedienen sich, um ihre touristisch zu vermarktenden Eigenheiten gebührend anzupreisen, gerne bei berühmten Namen. So bringt es die Welt laut Schweiztourismus auf 191 Schweizen, das tatsächliche Land inbegriffen, die Neue Zürcher zählt gar 233 Regionen, die sich des Namens bemächtigen, und wer weiß wie viele Hügel zwischen Estland, Hokkaido und Swasiland da noch unberücksichtigt geblieben sind.

Zu den größenwahnsinnigen Regionen, die sich eines bedeutenden Namens bedienen, zählt auch eine kleine Gegend in der Basilika in Süd-Italien. Rund um die Dörfer Pietraportosa und Castelmezzano erstrecken sich bizarre Felsformationen – die Lukanischen Dolomiten. Diese wilden Zacken erinnern von der Form her durchaus an das Hochgebirge am nördlichen Rand des Landes, angesichts ihrer Ausmaßen wirkt der vergleich schon etwas anmaßend. Auch wenn die höchsten Erhebungen der Gegend immerhin 1.800 Meter erreichen, sind die Felsen selbst kaum mehr als hundert Meter an einem Stück hoch. Da die Felsen sich aber malerisch hinter dem farblich schön abgestimmten Häusergewirr der zwei Dörfer erstrecken, wirken sie gleich noch ein bisschen imposanter. Von der Fernverkehrsroute zwischen Salerno und der Adria geht es rechts ab, immer sanft bergauf und schließlich durch einen langen Tunnel, dahinter bauen sich die steilen Spitzen plötzlich zur Linken auf und wirken auf den ersten Blick ein bisschen wie Pappmaché-Felsen hinter dem Dorf Castelmezzano, das von jenseits des Tals gleichermaßen wie ein Kulissenort aus einem Western herübergrüßt.

Im Ort ist dann alles ganz real, es geht es gemütlich und unaufgeregt zu, dörfliches Leben wird hier noch gepflegt. Das größte Hotel möchte sich allerdings schon ein bisschen anbiedern bei der Namens geebneten Region in den norditalienischen Bergen. Um so spektakulärer geht es in der Luft über dem Tal, das Castelmazzano und Pietraportosa trennt, zu: den tiefen Geländeeinschnitt kann man nämlich in James Bond Manier überwinden – mit einem »Flug des Engels«. Per Seilrutsche rauscht man mit bis zu 120 Km/h hoch über dem Abgrund entlang und spart so fast eine Stunde Autofahrt ein, schöne Ausblicke inklusive. Ich war für dieses Vergnügen zur falschen Zeit vor Ort, bin mir aber nicht sicher, ob ich das, wenn es gerade möglich gewesen wäre, gemacht hätte. Egal ob abenteuerlustiger Urlauber oder Nahverkehrs-Konsument – ein Zwei-Minuten-Ritt durch die Wolken, Kopf voran, bedeutet sicher jedes Mal Adrenalin pur.