Genaros tuckernder Minitraktor, eine Mischung aus Piaggio und Militärtransporter, steuert auf den Abgrund zu. Erst im letzten Moment sieht man, dass es hinter der Geländekante weiter geht – mit schätzungsweise 30% Gefälle. Dass das Gefährt hier diszipliniert runterrollt, scheinbar im 0,25ten Gang oder so – extra für das Steile gemacht – ist erstaunlich und entspannend. Vom Dorf Civita aus, das wie auf einer Terrasse hoch über der Raganello-Schlucht liegt, geht es scheinbar endlos den steilen Weg bergab, bis man ganz unten am Fuß der felsigen Berge ist, auf der Südseite des Monte Pollino. In dieser geschützten Lage ist es wahrscheinlich besonders in kühleren Jahreszeiten noch milder als im Dorf in seiner Plateau-Lage und es gibt daher beste Bedingungen für wärmeliebende Pflanzen. Auch wenn der Unterschied jetzt, Anfang Mai, kaum wahrnehmbar ist. Seit Tagen brennt die Sonne tagsüber das Hirn durch. Auch wenn man sich hier geographisch in den Bergen wähnt, liegt der Ort doch nicht mal 500 Meter über dem Meeresspiegel – beste Bedingungen also für allerlei südliche Pflanzen. Hier unten im Tal liegen nur ein paar kleine Parzellen mit Obst- und Gemüseanbau, umgeben von Felsen wie in einer Wildwest-Szenerie. Hier hat auch Genaro Pistocchi seine Obstbäume. Vieles, was hier wächst, hat das mitteleuropäische Auge noch nie erblickt. Die chinesischen Mandarinen beispielsweise, sehr klein und wie ein American Football geformt. Die kann man mit Schale essen – auch weil sie nicht gespritzt sind. Hineinbeißen ist wahrscheinlich dennoch nicht jedermanns Sache – das Saure dominiert im Geschmack eindeutig. Die Konsistenz liegt irgendwo zwischen Physalis und Orange. Es sind nur ein paar Bäume, aber die hängen reichlich voll von den kleinen orangefarbenen Früchten. An anderen warten Zitronen und Orangen darauf, vom Baum genommen zu werden. Manche Zitrusfrüchte verweigern sich mit ihren eigenwilligen Formen wohltuend den EU-Normen. Der Piretto – ich nehme wegen der männlichen Namensendung mal an, mit männlichem Artikel – gehört dazu. Wie viele verschiedene Arten hier auf den paar Quadratmetern wachsen, habe ich nicht ganz verstanden, vom Gefühl her ist jeder Baum seine eigene Art.
Manche dieser Früchte haben Geschmäcker wie man es sich bei mitteleuropäischem Marktangebot kaum vorstellen kann, die besonders abweichenden tendieren eindeutig in die süße Richtung. Genaros Frau Angela jedenfalls veredelt einige der Früchte zu Marmelade und Hochprozentigem. So gibt es neben Orangen-, Feigen-, Waldbeeren-Marmelade auch Liköre wie Limoncello und Lakritzlikör, alles nur in kleinen Mengen und meist für den eigenen Gebrauch.
Civita hat nicht nur viele besondere Früchte auf seinen Flächen zu bieten, es hütet auch eine besondere Geschichte. Das Dorf gehört zu den insgesamt 56 über ganz verteilten Gemeinden, in denen Mitglieder der Arbëresh leben, Nachkommen der vor 600 Jahren vor den Osmanen aus Albanien geflohenen Christen. In Civita leben die vielen Nachkommen dieser frühen Flüchtlinge ihre Tradition noch ziemlich bewusst. Jedes Jahr Anfang Mai feiert man den Geburtstag des Nationalhelden Skanderbeg, Verteidiger gegen die Osmanen.
Interessantes zeit sich auch in den Gebäuden. Manche der alten Häuser haben Gesichter. Das ist kein Scherz und auch nicht dem guten Wein des Ortes geschuldet. Als Casa Codra bezeichnet man ein Haus, das sich in seiner Fassade zwei Augen, eine lange Nase – dabei handelt es sich meist um einen Schornstein – und einen ziemlich gierig, weil weit, geöffneten Mund präsentiert. Häufig sind diese Häuser aber nicht, man muss sie im Gassengewirr gut suchen.
Apropos Wein: der wird natürlich auch im Ort kredenzt. Das macht unter anderem Agostino Cerchiara. In seiner Kelterei werden jedes Jahr 4.000 Liter roter Rebensaft abgefüllt. Etwas außerhalb des Ortes züchtet Agostino außerdem eine besondere Delikatesse. Auf einer kleinen Gartenfläche wachsen in üppig wuchernden Sträuchern Schnecken heran.