Die Gassen der Medina von Marrakesch sind eine Herausforderung für alle Sinne. Trotz der Touristenströme findet man ihr noch immer das pralle, wuselige Leben des Orients. Laut und eng ist es – alles drängt in den engen Gassen aneinander vorbei, die Marktschreier und Geschäftsleute bieten ihre Produkte nicht eben still an. Bunt ist es – Stoffe, Gewürze, andere Produkte in mannigfaltigen Farben liegen aus, dazu die Häuser in warmen Farben und ihre Türen. Gewürzstände sorgen für intensive Gerüche. Elias Canetti beschreibt in “Die Stimmen von Marrakesch” die Forderung aller Sinnesorgane – Farben und Gerüche im Souk, die Rufe der Blinden.
Will man der Hektik entkommen, steigt man ihr am besten auf’s Dach – von oben sieht man alles mit anderen Augen, vor allem mit mehr Ruhe. Hinauf geht es durch den Innenhof der Riads, wie die traditionellen Häuser mit Innenhof heißen, wobei der Innenhof – oft mit Springbrunnen – manchmal auch ein kleiner Garten sein kann, der auf allen vier Seiten gegen die Außenwelt abgeschirmt ist. Rund um diese privaten Oasen herum führen dann die Treppen nach oben. Praktisch alle Dächer sind flach und auf vielen ist eine Terrasse eingerichtet, von wo aus man dann die Dächerlandschaft aus wieder einem anderen Winkel betrachten kann. Viele der Terrassen gehören freilich zu einem Hotel, wobei auch günstigere Unterkünfte über diese Annehmlichkeit verfügen. Mitten am Tag wagt sich außer im Winter wohl niemand hier hoch, am späten Abend, wenn es angenehm kühl wird, sorgt das Licht mitunter für eine magische Stimmung. Dafür sorgt auch das Atlas-Gebirge, das aus der Ferne grüßt. Die bis in den Mai schneebedeckten Gipfel liegen näher als die Alpen an München. Die unübersichtliche Dächerlandschaft sieht an vielen Stellen noch so aus wie zu Zeiten als eine ganze Riege westlicher Bohèmians Marrakesch bevölkerte. Die Autoren der Beat Generation sahen hier im Spannungsfeld zwischen westlichen Exotik-Vorstellungen und einer archaischer Welt den natürlichen Ort für Ausschweifungen jeglicher Art – siehe “Naked Lunch” von William S. Burroughs. Heute bezeugen über den Dächern höchstens unzählige Satellitenschüsseln, dass wir uns im 21. Jahrhundert befinden. In manchen Viertel hängen Teppiche über den niedrigen Hausdächern – ein praktischer Aufbewahrungsort für die großflächigen Produkte, die für den Verkauf im angeschlossenen Teppich-Souk vorgesehen sind.
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